Szene 2.1

2020, eine Szene aus dem begonnenen Romanprojekt.

2020, a scene from the novel project that has been started.

Seine Lippen sind so fleischig, dass mir graust. Er rührt mit seiner schleimigen Zunge in meinem Mund herum, wie ein verzweifelter Maurer. Seine Hände wühlen unter meinem T-Shirt zielstrebig immer wieder an meinen BH. Magensäure klopft an meine Kehle. Ich nutze den Beat der dröhnenden Neunzigerjahre-Nummer und schubse ihn zurück. Soll ich ihn anlachen, oder mir den Finger gleich hier am Dancefloor in den Mund stecken?

Es ist Mitternacht, alles schwitzt hier. Die Leute, die Fensterscheiben und die Wände. Ich schlüpfe wendig durch die dicht gedrängte Menge und wippe mich im Takt in Richtung Bar. Die Älteren im Studentenwohnheim schenken wieder aus. Sich an den Tresen anzulehnen wäre fatal, Tequila und Cola-Rum schwimmen auf der Plastikfolie um die Wette. Ich schreie den Typen dahinter um ein Bier an. Er schaut scharf aus, Tätowierung am Unterarm und ein Nasenring. Trotzdem er in der Affenhitze eine Wollhaube trägt, stelle ich mir allerlei Schandtaten vor, die ich mit ihm anstellen könnte.

Die „Drei Euro!“, habe ich in Münzen.

Als er mir den schwappenden Becher reicht, schlängelt ein dicklicher Lockenkopf sich galant wie ein frisch geschlüpftes Rehkitz unter der Theke hervor und greift meinen Arm: „Komm mit, schnell!“

Dani und ich tänzeln uns flink und unauffällig durch die wippenden Körper in der hitzebeladenen Aula zum Beat nach draußen. Die laue Sommernacht wummert, lacht und schmust. Zweimal um die Ecke gebogen, präsentiert Dani mir ihren Schatz: Eine volle Flasche roten Eristoff.

„Ahaha! Hast du die jetzt an der Bar geklaut?“

„Fix!“, schreit sie torkelnd in den schmalen Streifen des schwarzen Himmels über uns.

Wir plumpsen auf den Gehsteig, alles dreht sich. Frischluft. Ich zücke mein Tabaketui und drehe uns zwei Zigaretten. Die Wodkaflasche klebt wie eine Venusfalle. Ich kippe einen guten Schluck und reiche Dani ihr Schätzchen zurück. Sie zieht an, als wäre es eine Weinflasche.

„Dani, sauf nicht so schnell!“

„Wen interessiert’s? Semester Closing!“, quietscht sie lachend und setzt nochmals an der Flasche an.

Ich entreiße ihr das Teufelszeug. Ihre Eltern sind abschreckendes Beispiel genug. Und, ich weiß, wie sehr sie darunter gelitten hatte, schon als Kind ihrem Vater den Whiskey ständig nachfüllen zu müssen.

„Was ist mit dir? Ich bin erwachsen…“, Dani streckt ihre Zunge zwei Kilometer weit raus und lacht mich glasig mit weit offenen Augen an.

„Das ist nicht mehr lustig“, ich mache mir Sorgen. Dani war in der letzten Woche echt krass am Feiern, und wir sind noch zu jung, um uns ganz kaputt zu saufen.

Jemand kotzt in der Seitengasse. Als wir den Schwall hören, der sich wie Putzschwemme über die Straße ergießt, lachen wir laut und stehen vorsichtig auf. Natürlich nicht, ohne uns dabei aneinander festzuhalten. Josch duckt sich in großem Bogen um uns auf die andere Straßenseite rüber.

„Was macht der Joschi?“, Dani zeigt auf die andere Straßenseite und ruft unserem schlurfenden Freund nach: „Herr Seidl! Was ist mit Ihnen?“

Er stolpert hängenden Kopfes weiter, dreht sich nicht einmal zurück nach uns um. Er hat uns hundert pro gehört.

„Lass ihn“, murmle ich, „Er schmust so grauslich, ich brauch den heut nicht mehr…“

„Er… WAS?“, Dani quietscht gellend und scheppert sich gefühlt eine Stunde lang ab über meinen zwischenmenschlichen Fehltritt.

„Anna. Du bist so ein Arschloch.“, sie will mich hauen, ich weiche zurück.

Wir setzen uns wieder und blicken uns so tief in die Augen, wie man es mit vollem Tank noch schaffen kann. „Das ist echt unmenschlich von dir. Josch steht nämlich wirklich auf dich“.

Mir dämmert Unheimliches.

Jetzt ist schon wieder mein verdammtes Tabaketui weg. Ich taste den Gehsteig rund um uns beide ab und schubse dabei beinahe den halbleeren Eristoff um, den wir solidarisch zwischen unseren Hintern positioniert haben.

„Da seid ihr!“, vor uns hat sich plötzlich ein Jeanspaar aufgebaut.

Mein Blick klettert nach oben und ich erkenne den tätowierten Unterarm des Mützen-Typs von der Bar. Ein gefährlich leuchtendes Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus. Ein noch gefährlicheres Feuerwerk in meiner Brust entfacht.

„Meine Verehrung!“, ich strahle den großen Mann an wie ein Atomkraftwerk.

Er packt Danis Unterarm: „Her mit dem Wodka!“

Ich erhebe mich elegant wie nur Marie Curie es in ihrem letzten Lebensjahr gekonnt hätte und werfe meinen Arm über mein neues Schätzchen. In der Hoffnung auf Kernspaltung, klimpere ich meine Aufwartung auf schwer getuschten Wimpern und mir fällt nichts Besseres ein, als ihm ein Busserl auf die Wange zu schmatzen, „War nicht böse gemeint“.

„Ernsthaft? Ich könnte euch anzeigen!“, er windet sich aus meiner Umarmung.

Seine muskulösen Oberarme bleiben in meiner Brust gespeichert bis in alle Ewigkeit. Ich beiße mir fest auf die Unterlippe und starre auf seine Skaterschuhe.

Dani hievt sich wankend hoch, grapscht nach dem Schnaps hinter sich und streckt ihm den ranzigen Rest hin: „Return to sender.“

Die Literflasche fällt in seine große Hand. Er packt sie souverän in seine Gesäßtasche und steckt seinen Zeigefinger in meinen Bauch: „Drei Uhr. Treffpunkt Bar. Du hilfst mir aufräumen.“

Dani knufft mich in die Seite und wir prusten los, als Mr. Wichtig abzischt. Die Vorstellung erscheint uns beiden zwar krass komisch, aber ich freue mich jetzt echt auf unser ‚Aufräumen’.