Eine von hundert

2022, Auszug aus der Kurzgeschichte zum Thema ‚Gesund Schreiben‘.

2022, excerpt from the short story on the topic of health.

Das Reisen war mir lange Zeit unheimlich, vielleicht auch, weil ich mich einmal im Urlaub in einen Delfin verwandelt hatte. Seit Jahren hatte die Angst mich im Griff, es könnte sich wiederholen. So hatte ich es bislang nie besonders weit aus Österreich weggeschafft.

Der kritische Anstoß, mich zum ersten Langstreckenflug mit mir selbst zu ermutigen, kam vor Weihnachten. Meine jährliche Depression hatte sich stark ausgewachsen und ich hatte wieder einmal meinen Job geschmissen. Freunde sprachen mir liebevoll und nachdrücklich zu, dass ich woanders, weit weg vom Wiener Wintermatsch, wieder Zuversicht finden würde.

Jetzt habe ich also sechs Wochen in Neuseeland verbracht, in einem Sechzigpersonenbus. Heiß war es und sonnig, und es hat mir gutgetan, mich einmal mit ganz anderen Menschen auszutauschen. Morgen geht mein Rückflug nach Hause. Die letzte Busfahrt heute, zurück nach Auckland, wird keine zwei Stunden mehr dauern. An uns zieht die hügelige Vulkanlandschaft der Nordinsel mit ihrer üppig wuchernden Pflanzenwelt vorbei. Ich sitze in der hintersten Reihe neben der zwanzigjährigen Psychologiestudentin aus Berlin. Wir genießen die Aussicht, und ich will eben meine Kopfhörer aufsetzen, da stupst sie mich vorsichtig an: „Dein Delfin-Tattoo ist krass geworden. Hast du das gestern noch machen lassen?“

Eine rhetorische Frage, denn die Folie ist noch über meinen Arm gewickelt. Ich freue mich, dass sie es anspricht: „Ja, das ist sich gerade noch ausgegangen in Wellington“. Ja, es ist wirklich ziemlich krass geworden. Reisetätowierungen finde ich selten inhaltlich spannend oder besonders kreativ. Viele ließen sich hier Sonnenuntergänge in der Form Australiens stechen oder Landkarten in Maori-Mustern.

Das frische Tattoo an der Innenseite meines Oberarms ist kein Souvenir. Es war einfach längst fällig. Meine Geschichte dazu, die ich dem Künstler in zwei Sätzen erzählt hatte, brachte er perfekt unter meine Haut. Man kann die Zeichnung wohl nur verstehen, wenn man weiß, welchen symbolischen Wert sie für mich hat. Aber ich erzähle das alles nicht oft, nicht in zwei Sätzen und nicht jedem. Nur manche meiner Reisebekanntschaften habe ich eingeweiht, auch die Deutsche neben mir. Trotz unseres Altersunterschiedes haben wir uns lange und tiefgründig ausgetauscht. Sie tätschelt mir die Schulter, wir lächeln uns wissend zu.

Den Kopf zum Fenster wegdrehend, setze ich mir meine Kopfhörer auf. Musik meiner Lieblingsband setzt ein, und ich schließe die Augen: „Everything in its right place“. Das Lied beruhigt mich heute noch so wie vor fünfzehn Jahren, als ich selbst einundzwanzig war. Damals war ich ein Delfin.

(…)